
55 Perspektiven: über das Lesen
55 war meine persönliche Zahl des Jahres 2022 und die größte Anzahl an Büchern, die ich in diesem Jahr verschlang: als eBook in einer vollen S-Bahn, als Einband an einem Wochenendnachmittag oder als Hörbuch beim Laufen oder Haushaltsarbeit.
Im Jahre 2023 werden es wohl um die 50 sein.
Diese Zahlen zu erreicht ist kein Selbstzweck. Auf meiner “Ziele 2022”-Liste stand eine Zahl von 20, die ich bereits im Mai jenes Jahres erreicht habe. In diesem Jahr gehörte das Erhöhen des Lesevolumens nicht zu meinen Zielen.
Diese Zahlen entstanden spontan. Sie sind aber auch das Ergebnis eines atomaren Prozesses der Etablierung einer Gewohnheit: der Gewohnheit zum Lesen.
In den Jahren davor beschäftigte ich mich tatsächlich mit der Frage “Wie?”:
- Wie kann ich mehr lesen?
- Wie kann ich mir Zeit einsparen, um mehr zu lesen?
- Wie verwandle ich das Lesen in die tägliche Routine?
Daraus entstanden folgende Verhaltensmuster:
- immer ein Buch schnell zur Hand (oder eben für das Ohr) zu haben,
- mehrere Bücher parallel zu lesen: Fachliteratur an einem Vormittag unter der Woche, eine Biografie als Hörbuch beim Laufen, ein Roman im Bett vor dem Einschlafen,
- immer ein Vorratsstapel an Büchern haben, damit keine Pausen zwischen dem Abschließen eines Buches und dem nächsten Buchladen- / Büchereibesuch entstehen,
- Themen wählen, die zum aktuellen Moment passen: ich komme immer wieder zurück zu den Büchern, die ich schon vor einiger Zeit auf meinem “Regal ungelesener Bücher” abgestellt habe.
Nach einer gewissen Übersättigung an Informationen stellte ich mir auch die Frage, WARUM lese ich eigentlich? Warum sollte man überhaupt lesen?
Auf diese Frage liefert eine Google-Recherche allein in der deutschen Sprache Milliarden von Ideen:
- Lesen bildet;
- Lesen trainiert das Gehirn;
- Lesen erweitert den Wortschatz und verbessert das Ausdrucksvermögen;
- Durch das Lesen taucht man in die Welten ein, die einem nicht zugänglich sind;
- Durch das Lesen entgeht man einer bitteren Realität, in welcher Kriege und Krisen das eigene Leben verwüsten.
Meine persönliche Antwort ist jedoch:
weil jedes Buch mir eine neue Perspektive bietet, dank welcher ich unsere Welt aus einem anderen, für mich neuen Blickwinkel, betrachten kann.
Durch unsere Sozialisierung und die kulturellen Gegebenheiten bewegen wir uns bereits in immer gleichen Informationsbahnen. Der Zugang zu anderen Weltsichten bleibt und daher auf eine natürliche Weise verschlossen.
Durch die Jahre der Pandemie engten sich einige von uns nicht räumlich, sondern auch intellektuell ein. Unsere Gedanken drehen sich um die gleichen Themen und nach dem gleichen Muster. Diesen Kreis zu durchbrechen, ist der Grund, warum das Lesen wichtig ist.
In meiner Leseliste fällt mir diese Vielfalt an Perspektiven auf. Und diese Lawine löste 2022 ein einziges Buch aus: “Frauenliteratur” von Nicole Seifert. Frau Seifert ließ sich auf ein Experiment ein, bei dem sie bewusst über einen Zeitraum nach den Büchern von weiblichen Autorinnen griff. Letztendlich kam sie zu einer Erkenntnis, dass die weiblichen Perspektiven in der Literatur zum Teil aufgrund des Matthäus-Effekts herausgedrängt wurden. Jahrhundertelang, wie ich aus den Büchern von Mary Beard und Richard Tarnas gelernt habe, fehlte die weibliche Perspektive in der Literatur und auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung.
Aber es geht nicht nur um die weibliche Perspektive. Es geht auch um die Perspektiven von Menschen, die “anders” als der “weiße Mann des mittleren Alters” sind:
- die anders aussehen, wie die Frauen aus “Mädchen, Frau, etc.” von Bernardine Evaristo,
- die anders handeln, wie Nelson Mandela oder Nadia Wassef in “Shelf Life”
- die sich (verdammt noch mal) anders als eine “typische Business Woman” kleiden, wie Tijen Onaran,
- die woanders herkommen, wie Elena Penner (“Migrantenmutti”) oder Marika in “Paradise Garden” von Elena Fischer,
- oder einfach, die anders fühlen, wie Elon Musk (aufgrund seines Aspergers) in “Elon Musk” von Walter Isaacson.
Ich bin dankbar für all diese Stimmen, die meine Welt mit neuen Farben verweben und mich immer wieder daran erinnern lassen, wie unterschiedlich wir alle sind.
Obwohl wir alle derselben Spezies angehören.

