Buchcover Empowered Cagan
Innovation,  Produktentwicklung

Reinvention Required: Echte Innovation für morgen beginnt JETZT

Walter Isaacson erzählt in “The Innovators” von technischen Durchbrüchen aus den letzten zwei Jahrhunderten. Bent Flyvbjerg in “How Big Things Get Done” analysiert Mega-Projekte und arbeitet praxisrelevante Heuristiken aus. Adam Grant zeigt in “Hidden Potentials”, wie Zusammenarbeit und Kultur große Leistungen ermöglichen. Marty Cagan zusammen mit Chris Jones gehen mit “EMPOWERED” einen Schritt weiter: Basierend auf ihrer Erfahrung bieten sie einen Leitfaden, wie sich Unternehmen systematisch so aufstellen, dass sie wiederholt Innovation ermöglichen.

Wir erleben heute eine Zeit, in der Innovationszyklen schneller werden als je zuvor. Wer sich nicht neu erfindet, wird überrollt, wie Kodak, wie Nokia, wie Yahoo.

Der Erfolg des Kataloggeschäfts von Otto hielt Jahrzehnte an. In den letzten Jahren boomte es in den Online-Regalen von Zalando. Dann fürchteten sich die beiden vor der wachsenden Macht von TikTok, das den deutschen Markt mit dem eigenartigen Shop-Konzept erobern will. Zwei Monate nach dem großen TikTok-Shop-Release stehen wir vor einem neuen Kapitel der E-Commerce-Entwicklung: Das KI-Shopping-Zeitalter beginnt – eines, in dem “agentic AI” einkauft, bevor wir überhaupt wissen, was wir brauchen.

Doch wie gelingen solche Entwicklungen? Und warum bringen sie etablierte Player ins Schwitzen?

Drei Hebel, die den Unterschied machen

Cagan und Jones sprechen in “EMPOWERED” über drei fundamentale Unterschiede zwischen erfolgreichen Unternehmen und dem Rest. Sie unterscheiden sich durch:

  • Technologie gehört zum Geschäftskern.
  • Führung befähigt und nicht nur verwaltet.
  • Teams sind Problemlöser und keine Umsetzer.

Technologie ist das Business

In der jüngsten Geschichte gibt es zwei Unternehmen, deren Produkte einer Revolution gleichkommen, auch wenn diese Meinung von ihren deutlich größeren und einflussreichen Konkurrenten nicht gern geteilt wird.

Pixar zeigte der ganzen Filmindustrie, dass die Computeranimation zum Kern eines Filmes werden kann und nicht die nötigen Kosten. Tesla sparte an manchen Komfort-Details, brachte das Konzept Auto auf das nächste Level, indem es die Technologie zum wichtigsten Bestandteil machte.

Amazon, Netflix, selbst N26 definieren sich über ihre technologische Exzellenz. Selbst die UX ist keine Kosmetik mehr, sondern ein Differenzierungsmerkmal. Das sind Unternehmen, die die Technologie nicht als eine Kostenstelle ansehen, sondern als ihren Kern, ihr eigentliches Business. Während sie neue „AI-first-Systeme“ pilotieren, optimiert der Rest ihre “SAP-/ Salesforce-/ Hubspot-/ you-name-it-Prozesse”.

Führen = Kontext schaffen

Damit Produktteams richtige Entscheidungen auf täglicher Basis treffen können, ist die gute Führung essentiell.

Die Hauptaufgaben einer guten Führung liegen:

  • im Definieren der Produktvision – der Zukunft, die wir mit unserem Produkt für unsere Kunden erschaffen wollen;
  • im Festlegen von Produktprinzipien – einer Art Entscheidungshilfe in der Produktentwicklung, die im Einklang mit der Produktvision steht. Better done than perfect oder Fail fast könnte für ein Produkt im Marketing-Kontext ein passendes Prinzip sein, aber absolut fatal im medizinischen Bereich;
  • in der Organisation von Teams rund um das Produkt und das Geschäft, die einander ergänzen und bereichern;
  • im Ausarbeiten der Produktstrategie – des Plans, der Richtlinie, wie sich die Vision trotz Meetings und täglichem Firefighting erreichen lässt.

Diese Art der Führung ist kein Heroismus, sondern Handwerk. Es braucht keine Messiasfigur in einem schwarzen Rollkragenpulli / in einem grauen T-Shirt / mit einer dicken Hornbrille, sondern jemanden, der Teams mit strategischem Kontext ausstattet und ihnen einen Rahmen für richtige Entscheidungen gibt.

Eine weitere “kritische” (wie Cagan sie nennt) Aufgabe ist die Kommunikation von definierter Produktvision, Produktprinzipien und Produktstrategie innerhalb der Produktorganisation, aber auch unternehmensübergreifend.

Marty Cagan spricht hier über das “product evangelism” und “Produkt-Missionärtum”, was ich allerdings für altmodisch und irritierend halte: wozu “Evangelism”, wenn die Technologie bereits zum Business wurde? Beide Begriffe sind zudem patriarchalisch und religiös aufgeladen, was im Jahre 2025 eher angestaubt als inspirierend wirkt. Ich würde hier etwas neutralere Ausdrücke bevorzugen, wie “alle abzuholen” oder die Entwicklung des “gemeinsamen Verständnisses” (”shared understanding”) sprechen.

Und natürlich gehören zu den Führungsaufgaben auch die typischen Management-Aufgaben wie die Einstellung und Entwicklung von Mitarbeitern. Doch hier liegt oft der Knackpunkt: Viele Führungskräfte verlieren sich in administrativen Tätigkeiten und Mikromanagement, anstatt ihre Teams zu befähigen und zu inspirieren. Die besten Produktführer schaffen es, ihre Mitarbeiter so zu entwickeln, dass diese selbstständig fundierte Entscheidungen treffen können. Dabei spielen Coaching und Mentoring eine entscheidende Rolle. Marty Cagan liefert einen konkreten Plan, wie ein Coaching-Plan aussehen könnte, der definitiv einen eigenen Artikel mit Insights erfahrener Produktmanager wie Petra Wille, Ben Horowitz, Eric Schmidt verdient hätte.

Eine weitere Management-Aufgabe ist die Definition von Problemen und Zielen, die ein Team lösen oder erreichen soll.

Teams als autonome Problemlöser

In den meisten Unternehmen sind Produktteams oft nur Ausführungsorgane. Sie erhalten detaillierte Anweisungen und setzen sie um: Im besten Fall sprechen wir von Anforderungen oder “Requirements”, aber in vielen Fällen (im Jahr 2025!!! Hey! Marty McFly besuchte uns schon vor 10 Jahren aus seinem weit entfernten 1985!!!) werden Last- und Pflichtenhefte zusammengefasst.

In ”empowered” Organisationen werden Teams als unternehmerische Problemlöser verstanden:

The litmus test for empowerment is that the team is able to decide the best way to solve the problems they have been assigned.

Teams bekommen keine Backlogs mit Tasks, sondern Probleme, die sie im Rahmen vorhandener Ressourcen, Ziele und Kontexte lösen dürfen. Diese Teams zeichnen sich durch Merkmale wie Cross-Funktionalität, Autonomie in der Arbeit und der Entscheidungsfreiheit. Sie haben einen direkten Zugang zum Kunden und können ihre Lösungen unmittelbar validieren.

Der Unterschied ist dramatisch: Während Funktionsteams (”feature teams”) meist nur einen Teil ihrer Zeit mit der eigentlichen Problemlösung verbringen und den Rest in Meetings und Abstimmungen verlieren, können Produktteams (”empowered teams”) ihre Energie darauf verwenden, wirklich wertvolle Lösungen zu entwickeln. Bereits in “INSPIRED” sprach Cagan über die wichtigsten Merkmale eines Produktes:

  • Wertigkeit und Überlebensfähigkeit auf dem Markt: valueable and viable product
  • Nutzbarkeit und Machbarkeit: usable and feasible product

Produktteams übernehmen Verantwortung sowohl für die konzeptionelle Seite als auch für die Auslieferung eines Produkts und die Geschäftsziele. Funktionsteams agieren im vorgegebenen Rahmen und müssen Outputs liefern, die vom Management erwartet werden.

Ein Produktteam denkt wie ein Start-Up, profitiert von existierenden Unternehmensstrukturen und liefert Produkte, die das Unternehmen in die Zukunft führen.

Reinvent yourself ist kein Werbespruch, sondern die nötige Realität

Der Wandel ist unvermeidlich und er braucht den Mut, ständig eigene Prozesse, Modelle und Ideen zu hinterfragen, um aufgrund von verpassten Transformationen von der Bühne nicht zu verschwinden.

Die drei Unterschiede – Technologie als Geschäftskern, strategische Führung und empowered Teams – sind keine netten Zusätze für moderne Unternehmen. Sie sind überlebenswichtig in einer Welt, in der sich Märkte in Monaten, nicht Jahren verändern.

Diese Fragen sollte sich jedes Unternehmen JETZT stellen:

  • Sind unsere Tech-Teams Teil der gesamten Strategie oder nur Dienstleister und “Kostenstellen”?
  • Haben unsere Führungskräfte Zeit und Kompetenzen, unsere Mitarbeiter zu führen?
  • Dürfen unsere Teams Probleme lösen oder nur Wunschzettel abarbeiten?

Unternehmen, die noch immer Technologie als notwendiges Übel betrachten, werden von digitalen Disruptoren überrollt. Organisationen, die in Command-and-Control-Strukturen verhaftet bleiben, können nicht mit der Geschwindigkeit innovativer Konkurrenten mithalten. Und Teams, die nur “Features liefern”, werden niemals die kreativen Durchbrüche erzielen, die in hart umkämpften Märkten den Unterschied machen.

Der Wandel hin zu Produktteams ist nicht nur eine Methode, um Talente anzulocken. Es ist die logische Antwort auf eine Welt, die zu komplex und schnelllebig geworden ist, um von oben gesteuert zu werden. Unternehmen, die das verstehen und umsetzen, werden die Gewinner der nächsten Dekade sein.

Innovation ist kein Zufall, aber ihr Fehlen ist fatal. Wer nicht mutig umbaut, wird demnächst nur auf archive.org auftauchen.

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