Cover von Wenn die letzte Frau den Raum verlässt
Buchrezension,  Frauenliteratur,  Männerliteratur,  Perspektiven

Nur gute Ideen reichen nicht oder warum wir Männer oft nicht erreichen, wenn wir über Gleichberechtigung reden

Vor Jahren wollte ich das Schlafzimmer in einem dezenten Lavendelblau streichen. Doch damals wusste ich nicht, dass Wändestreichen tückischer sein kann, als man denkt. So wurde das Schlafzimmer pink, fast genau wie die Farbe auf dem Cover des Buches “Wenn die letzte Frau den Raum verlässt” von Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer.

Unser Nachfolger wollte das Schlafzimmer dann schwarz anstreichen. Wahrscheinlich hatte er Angst, vor seinen Freunden mit diesem Farbton als “nicht männlich” dazustehen.

Ein “Exterieur” eines Produkts in rosa Tönen ist nicht “jeder Manns” Sache. Tappt der Verlag hier in dieselbe Falle wie viele Start-ups, die ihr Produkt eher für sich selbst gestalten, statt für die Zielgruppe? Okay, mich haben sie damit erwischt: ich trug sehr stolz mein Exemplar aus der Buchhandlung. Aber wie viele Männer würden das tun? Und wie viele würden es überhaupt in die Hand nehmen?

Wir fordern die Gleichberechtigung, doch eines der wenigen Bücher männlicher Autoren zu diesem Thema wird so vermarktet, dass die Männer es wahrscheinlich übersehen.

“Wenn die letzte Frau den Raum verlässt” fasst Beobachtungen aus der Coaching-Arbeit zur Geschlechtergleichstellung zusammen. Eigentlich sind es keine bloßen Beobachtungen, sondern eine Anthologie männlicher Ängste, denen Autoren in Trainings, Workshops und Vorträgen in diversen Unternehmen und Bildungsstätten begegnet sind. Ängste von Männern, die wohl gut situiert, gebildet und sich eigentlich keine Sorgen um ihre Existenz machen sollten. Woher kommen diese Ängste?

Friedemann Karig und Samira El Ouassil bringen in ihrem Buch “Erzählende Affen” eine treffende Metapher: Männer stehen in einer Schlange und warten darauf, all die Versprechen von Beruf, Karriere und “schönem Leben”, mit denen sie aufgewachsen sind, wahr werden. Doch plötzlich reihen sich andere Menschen in diese Schlange ein: Frauen, Schwarze, Behinderte, Queere… Personen, die in ihrem vorgezeichneten Lebensplan eigentlich keine Konkurrenz darstellen sollten. Und diese Menschen bekommen genau das, was diesen Männern in der Schlange versprochen war. Diese Männer empfinden das als ungerecht, ohne zu erkennen, dass die Geschichte der Anderen von Ungerechtigkeit geprägt ist.

Die Autoren bündeln diese Ängste in zehn Archetypen, Charakterdominanten, die das Verhalten beeinflussen. Jeder Archetyp steht für typische Aussagen:

Gendern ist für den “Alphamann” nur ein “Mädchengetue” und es gäbe “wichtigere Probleme”. Der „verunsicherte Mann“ traut sich nicht, mit seinen Kumpels über Gleichstellung zu sprechen, aus Angst ausgelacht zu werden, und klagt, dass jetzt angeblich nur noch Frauen befördert werden. Der „Statistiker“ lehnt die weibliche Wahrnehmung ab. Der „Sexist“ schickt Frauen an den Herd und macht sie für „Catcalling“ verantwortlich, weil sie sich angeblich zu auffällig kleiden.

Antifeministen sehen Männer als die wahren Benachteiligten: „größere Nachteile“ wie kürzere Lebenserwartung, höheres Suizidrisiko, gefährlichere Jobs. Und dann gibt es die Pseudofeministen. Ich musste an einen hochrangigen Politiker denken, der gern solche Sprüche bringt: „Ich habe doch selbst Töchter…“

Und laut Herr und Speer gibt es noch Wölfe im Schafspelz, Privat-, Durchschnitts- und stille Männer. Alles, was niemand freiwillig sein möchte. Oder kennt ihr jemanden, der freudig rufen würde: “Na! Da bin ich gespannt, ob ich ein Sexist oder Statistiker bin!”

Ich finde es schade, dass die Autoren Männer in diese teilweise skurrilen, teilweise beleidigenden Gruppen einteilen. Es geht um ernsthafte Themen. Jeder Spruch wird erklärt und durch Studien und Expertenaussagen untermauert. Aber die Zielgruppe muss damit konfrontiert werden, sich in einer dieser Gruppen zu finden. Und da liegt das Problem: Wer sich nicht in deren Beschreibung wiederfinden will, liest auch nicht weiter.

Ich kenne viele dieser Sprüche. Einige kamen von denselben Männern. Die kann ich nun mal weder in Sexisten noch Alphamänner noch Privatmänner einteilen. Die Sprüche kamen situations- oder themenabhängig, nicht aufgrund des Status oder der Position dieser Männer. Meist waren sie begleitet von der Angst vor fremder Meinung und Verurteilung, wenn man das Thema Geschlechtergleichheit anspricht. Diese Angst ist menschlich und nicht nur männlich.

Vielleicht schaffen es die Autoren, in der nächsten Ausgabe, tatsächlich sich mehr auf die Ängste und Wege, diese zu überwinden, zu fokussieren statt Männer awenig vorteilhaft zu “labeln”.

Die Autoren geben auch Empfehlungen, wie Männer die Gleichstellung aktiv voranbringen können: “Frauen zuhören und ihnen glauben”, “andere Männer an Bord holen”, “Platz für Frauen machen”, “mehr Sorgearbeit leisten” und “Privilegien für Veränderung nutzen”.

Im Kern basieren ihre Ansätze auf zwei Prinzipien: Demut und Mut.

  • Demut zeigen, wenn man eine Frau unterbrechen will.
  • Demut zeigen, wenn man ein wichtiges Meeting absagt, weil das eigene Kind die Nacht durchgefiebert hat.
  • Demut zeigen, anzuerkennen, dass der Mann nicht die “Krönung der Schöpfung” ist.
  • Demut zeigen, um andere Perspektiven und Meinungen zuzulassen.

Und mutig sein,

  • um einen Kollegen auf den sexistischen Witz hinzuweisen und eine Entschuldigung zu verlangen.
  • um einer weiblichen Expertin auf LinkedIn, Instagram oder auch auf X zu folgen.
  • um einen Artikel einer weiblichen Wissenschaftlerin weiterzuempfehlen
  • um eine längere Elternzeit als nur zwei “Reisemonate” zu beantragen.
  • um mit dem rosa Buch von Speer und Herr aus der Buchhandlung zu gehen.

Männer besitzen viele Privilegien, oft, ohne dass es ihnen bewusst ist. Mehr Freiheit, mehr Geld, mehr Status, mehr Sicherheit, mehr Zeit. Wenn sie einen Teil davon in die Gleichstellung einsetzen, können wir viel schneller eine erfolgreiche, gleichberechtigte Gesellschaft erreichen.

Ironischerweise erschien dieses Buch zu einer Zeit, als Donald Trump zum US-Präsident wurde und DEI (Diversity & Inclusion)-Maßnahmen in großen Konzernen an Bedeutung verloren. Trotzdem haben wir ein Jahrzehnt intensiver Beschäftigung mit Gleichstellungsthemen hinter uns. Für mich sieht die Lage heute anders aus als vor zehn Jahren. Wie ist das bei euch?

Beim Lesen musste ich mehr als einmal an Produktentwicklung denken. Ein starkes Produkt lebt nicht nur von der Qualität „unter der Haube“, sondern auch davon, wie zugänglich es für die Zielgruppe ist. Ein gutes Buch mit einem schwachen Cover ist wie eine großartige App mit einem unübersichtlichen Onboarding: Der Wert steckt drin, aber viele werden ihn nie entdecken. Für mich ist das die eigentliche Lehre aus diesem Leseerlebnis und sie gilt weit über den Buchmarkt hinaus.

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