Die große Arbeiterlosigkeit von Dettmers, Buchcover
Bildung,  Buchrezension,  Innovation,  Perspektiven

Ohne Menschen keine Innovation: Wir müssen zu Headhunters werden

Warum Regionen ohne Menschen stagnieren

Vor kurzem verbrachte ich eine Woche im Wendland, einer ruhigen und idyllischen Gegend, bekannt durch ihre Heidefelder, Künstlerkolonien und abwesende Autobahnen. Doch etwas, das auf den ersten Blick idyllisch wirkt, ist auf den zweiten Blick LEER. Leere Straßen, geschlossene Läden, verlassene Häuser, kaputte Zäune und verwachsene Gärten. Keine Aufbruchsstimmung, kaum Bewegung, fast das Gefühl einer langsamen Verwesung.

Mittendrin entdeckten wir den Michaelshof: ein landwirtschaftlicher Betrieb mit einem eigenen Hofladen, einem großen Café und einer wunderschönen, gepflegten Parkanlage, in der an einem Nachmittag so viele junge Menschen wuselten, wie wir sie in den Tagen davor nicht gesehen haben. Und der Hof blüht im wahrsten Sinne des Wortes. Selbst im späten Herbst konnte man die Schönheit des aufwendigen Gartens erahnen. Ohne Menschen würde diese Oase nicht entstehen können.

Diese Erlebnisse illustrieren genau die Gedanken, die Sebastian Dettmers, CEO der deutschen Jobsuche-Plattform Stepstone, in seinem 2022 erschienenen Buch “Die große Arbeiterlosigkeit” zusammenfasste. Das langsame Herunterkommen an einigen Ecken ist kein rein wirtschaftliches Problem. Der Wohlstand in Deutschland basierte einerseits auf einer finanziellen Spritze in der Nachkriegszeit, andererseits auf den höheren Geburtsraten und einer erfolgreichen Migrationspolitik, als Tausende Menschen aus Italien, der Türkei und anderen Ländern nach Deutschland kamen.

Dieser Wohlstand brachte Frieden und Sicherheit mit sich, wenn auch nur für eine kurze Zeit. Jetzt spüren wir, dass etwas bröckelt. Die Spannungen zwischen den Generationen werden größer, wirtschaftliche Probleme lassen sich ohne grundlegende Reformen nicht lösen.

Die stille Gefahr: Wenn Arbeit keine Menschen mehr findet

In seinem Buch postuliert Sebastian Dettmers, dass eine wesentliche Ursache dieser wirtschaftlichen Stagnation das Fehlen von Menschen ist, die diversen Tätigkeiten nachgehen könnten, aber auch Ideen generieren und diese umsetzen. In einem meiner früheren Artikel schrieb ist, dass eine der wichtigste Merkmale der Innovation die Vielfalt von Ideen ist: je mehr Ideen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich etwas Brauchbares darunter findet. Die künstliche Intelligenz als Ideengenerator ist eine große Chance, reicht aber nicht aus, wenn niemand da ist, um diese Ideen zu verwirklichen.

Und das sind keine leeren Worthülsen. Dettmers analysiert die weltweite Geschichte des Wohlstands der letzten 250 Jahre und zeigt anhand von Zahlen, dass der Mensch der wichtigste Wachstumsteiber ist. Das absolut beeindruckende Beispiel war für mich natürlich China. Sie haben ihre Bevölkerung seit 1900 fast verdreifacht: von 400 Millionen auf 1,440 Milliarden. Und hier lässt sich definitiv eine Korrelation ziehen: Wo Menschen sind, entsteht Innovation und wenn noch Mittel und Strukturen mitspielen, erleben wir einen Wohlstands- und Produktivitätsboost.

Fünf Impulse aus “Die große Arbeiterlosigkeit”

Die Schrumpfung der Bevölkerung weltweit ist rein statistisch unvermeidlich. Kaum ein Land schuf in den letzten Jahrzehnten Anreize, um Geburtenraten zu fördern. In Deutschland sind z.B. Etats für die Familienförderung regelmäßig die Opfer der Kürzungen, da den Politikschaffenden die langfristige Sicht auf die gesellschaftliche Entwicklung fehlt. Wir werden uns mit der alternden, schrumpfenden aber hoffentlich gesünderen (dank aller Longevity Coaches) Bevölkerung arrangieren müssen.

Bereits vor drei Jahren schrieb Sebastian Dettmers eine Reihe von Impulsen zusammen, wie wir den aktuellen Entwicklungen entgegenwirken können. Keiner davon hat seine Aktualität verloren.

1. Innovation braucht Vielfalt

Wir müssen das gesamte Potenzial der Gesellschaft nutzen: Frauen, Ältere und Menschen mit Migrationsgeschichte. In der aktuellen volatilen Situation wünschen sich viele die „alte“ Welt zurück: der alleinverdienende Vater, die Mutter mit Schürze zu Hause, die Großeltern sonntags zu Besuch. Eine Welt, die so vielleicht 20 Jahre lang für eine breite Masse existierte, aber eigentlich eher ein Produkt der Werbung und Heimatfilme war. In der Realität kann dieses Bild nicht mehr existieren:

  • Zuwanderung: Wir brauchen sie als Innovationsmotor. Die USA, das mächtigste Land der Welt, sind ein klassisches Einwanderungsland.
  • Ältere: Sie dürfen nicht aufs Abstellgleis geschoben oder finanziell bestraft werden, wenn sie neben der Rente arbeiten wollen.

2. Echte Offenheit statt neuer Hürden

Deutschland schließt sich zunehmend gegenüber allen Neuerungen. Ein Talent aus Indien oder Brasilien kann auch nach Kanada oder Neuseeland gehen. Warum sollte es nach Deutschland kommen? Wir verlieren selbst die Talente, die bereits hier sind und den deutschen Wohlstand aufrechthalten. Vor einigen Wochen erschien im SPIEGEL ein Artikel aus Interviews mit hochgebildeten Einwanderern, die Deutschland entweder bereits verlassen haben oder in den nächsten drei Jahren verlassen werden.

Wir stehen in einem brutalen globalen Wettbewerb um den Wohlstand. Wir müssen aktiv um Talente werben, statt sie an der Grenze zu prüfen oder gehen zu lassen.

  • Sprache: Wir können nicht erwarten, dass die Welt perfekt Deutsch spricht, bevor sie einreist. Englisch muss in Amtsstuben und Unternehmen als Arbeitssprache akzeptiert werden. Und ja, das bedeutet im Umkehrschluss, dass viele ihre Englisch-Kenntnisse noch nachziehen müssen, um mithalten zu können.
  • Bürokratie: Die Anerkennung von Abschlüssen muss radikal vereinfacht werden. Wir können es uns nicht leisten, dass ausgebildete Ärzte oder Ingenieure hier Taxi fahren und Brötchen schmieren, weil ein Stempel fehlt. Wenn wir wollen, dass Innovation entsteht, muss Deutschland (und jede Region) ein „Place to be“ werden.

3. Radikale Digitalisierung als Rettung

Eine der menschlichen Reaktionen auf die Industrialisierung war die Zerstörung von Maschinen, die den Fabrikmitarbeitern damals im 19. Jahrhundert den Lebensinhalt wegnahmen. Heutzutage ist es unwahrscheinlich, dass jemand aus den gleichen Gründen wie britische Handwerker damals anfängt, Computer zu zerschlagen oder Internetleitungen zu kappen.

Aber viele kennen sicher Kollegen, die sich an ihre alte Art zu arbeiten klammern, aus Angst vor dem Neuen. Dettmers dreht das Argument um: Wir müssen aufhören, menschliche Arbeitskraft verschwenderisch einzusetzen. Alles, was automatisiert werden kann, muss automatisiert werden. Dazu gehört auch der Mut zu hohen Löhnen. Wenn Arbeit teuer ist, steigt der Druck auf Unternehmen, effizienter zu werden und Prozesse zu digitalisieren.

Geschäftsmodelle, die auf billigen Arbeitskräften basieren, wie Lieferdienste oder Reparatur-Services für Roller, sind kein Merkmal einer Hochtechnologie-Burg, sondern die Zeichen der Dekadenz.

Wenn Maschinen das „Abarbeiten“ übernehmen, haben Menschen Zeit für das, was Maschinen nicht können: Kreativität und echte Innovation, Pflege und Fürsorge.

4. Gleiche Chancen für alle (Bildung neu denken)

Eine gute Bildung ist die Grundlage für persönliches und wirtschaftliches Wachstum. Studien zeigen oft, dass immer mehr jungen Menschen grundlegende Kompetenzen fehlen. Unser Schulsystem, das mental noch im 19. Jahrhundert verhaftet ist, kann hier kaum gegensteuern. Vielleicht bietet die schrumpfende Kinderzahl zumindest die Chance auf kleinere Klassen und mehr Qualität.

Eine weitere, oft übersehene Baustelle ist die Erwachsenenbildung. Menschen werden keine linearen Karrieren mehr verfolgen. Wir brauchen eine Infrastruktur für den lebenslangen „Quereinstieg“. Der „ewige Student“ sollte kein Schimpfwort, sondern ein Ideal sein. Flexible Karrieren müssen zum Standard werden. “Seiten- und Quereinsteiger” müssen freundlich und nicht mit einem feindlichen Widerstand begrüßt werden, nur weil man ja ”drei Jahre gelernt hat”, bevor man den Beruf ausüben durfte (Was sind schon drei Jahre in einer Ausbildung im Kontext eines 80-jährigen Lebens?!)

5. Sinn ist der neue Rohstoff der Arbeit

Menschen wollen nicht nur funktionieren, sie wollen gestalten. In einer Welt, in der die Grundbedürfnisse gesichert sind und Arbeitskräfte rar sind, wird „Sinn“ (Purpose) zur härtesten Währung. Regionen und Unternehmen, die einen echten Sinn bieten, ziehen Talente an, selbst abseits der Metropolen.

Das Wendland zeigt es: Wo Gemeinschaft, Nachhaltigkeit und Gestaltungsmöglichkeit sichtbar sind (wie auf dem Michaelshof), kommen die Menschen. Wer nur „Jobs“ bietet, verliert. Wer eine Mission bietet, gewinnt.

Fazit: Zukunft ist ein demographisches und gesellschaftliches Problem

Ohne Menschen kippt jede Region in die Bedeutungslosigkeit. Technologie, Kapital und Infrastruktur helfen nur, wenn genug Köpfe da sind, die etwas daraus machen. Der Michaelshof zeigt im Kleinen, was möglich ist: Menschen zusammenbringen, Perspektiven öffnen, Sinn ermöglichen.

Wir müssen keine Angst vor der Arbeitslosigkeit haben. Die „Arbeiterlosigkeit“ heute und in den nächsten Jahrzehnten wird uns dazu zwingen, Menschen so einzusetzen, dass sie Sinn stiften, und Talenten die Möglichkeiten zur Entwicklung anzubieten, statt sie an den Grenzen abzuweisen oder aufgrund von Alter, Geschlecht oder Herkunft zu ignorieren.

Wer Zukunft sichern will, muss deshalb kein neues Branding erfinden, sondern Orte schaffen, die Menschen anziehen und halten.

P.S. Wer sich näher über den Michaelshof informieren möchte, kann diese Website besuchen. Dieser Text ist Ausdruck meiner persönlichen Erfahrungen und Emotionen zu diesem Betrieb. Es handelt sich nicht um eine bezahlte Werbepartnerschaft.

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