eine Uhr mit Buchcovern
Personal Growth,  Produktivität,  Psychologie

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Es war mein Philosophieprofessor, der mich über die Vergänglichkeit der Zeit unterrichtete. Er war einer dieser Philosophen, der allen Klischees entsprach. Er trug einen Dreitagebart, trank den Gerüchten nach samstags bis zum Umfallen und verließ seine Familie wegen der Affäre mit einer Studentin. Eines Tages erzählte er uns, dass ein Drittel unseres Lebens vorbei ist: uns blieben nun noch zwanzig weitere Jahre, bevor die Phase des Zerfalls einsetzt. Wir waren gerade erst Anfang zwanzig. Diese Perspektive auf das Leben war sehr ernüchternd. Für all das, was ich noch vorhatte, blieb mir erschreckend wenig Zeit. Das war für mich der Punkt, an dem es bei mir mit der Suche nach der verlorenen Zeit losging.

Da ich über geringe Ressourcen verfüge, um mir mit der Beschaffung der Freizeit à la Proust verhelfen zu können, suchte ich nach alternativen Methoden mehr Zeit zu haben:

Ging dem französischen Schriftsteller Marcel Proust das Geld aus, ließ er – den Gerüchten nach – einfach seinen Sekretär ein Aktienpaket verkaufen, um sich weiterhin seinen Leidenschaften und Liebschaften widmen zu können.

Ich verschlang eine Menge Bücher über effiziente Planung, klare Zielsetzung, Bildung von Gewohnheiten und konzentriertes Arbeiten. Hier sind einige der Werke der letzten Jahre, die ich auf meiner Suche nach einem Ausstieg aus dem Hamsterrad des Alltags durchforstet habe:

Jeder dieser Ratgeber hat zwar eine eigene Hintergrundgeschichte, enthält jedoch ähnliche Empfehlungen, die mit unterschiedlicher Intensität dargestellt werden. Ich fasse sie hier zusammen:

Im gesunden Körper, gesunder Geist

Ja, das klingt banal. Aber man kann weder produktiv noch erfolgreich sein,

  • wenn die Aufregung des spannenden Serienfinales dir den Schlaf beraubte,
  • wenn die Pizza von gestern am nächsten Morgen schwer in deinem Magen liegt,
  • wenn das Glas Rotwein die Lider für die nächsten 24 Stunden nach unten zieht.

Die Bewegung an der frischen Luft, eine bedachte ausgewogene Ernährung ohne industriell verarbeitete Produkte und viel Wasser sorgen für den konstanten Energiepegel, der unsere Produktivität fördert.

Verstehen, was dir wichtig ist

Wissen, was wir wollen, ist eine sehr wichtige Voraussetzung für den Erfolg jedes unserer Vorhaben. Wenn wir im Einklang mit unseren Werten und Prioritäten handeln, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass wir unsere Ziele erreichen.

Die Essentialisten wie Gary Keller und Greg McKeown raten, sich auf einer minimalen Anzahl an Zielen aus den wichtigsten Lebensbereichen (Gesundheit, Finanzen, Beziehungen etc.) zu fokussieren.

Was bei der Auswahl, Bewertung und Umsetzung von Zielen wichtig ist: Alles, was damit verbunden ist zu “externalisieren” und mit der Hand in einem Schreibblock oder einem netten Kalender aufschreiben. Durch das “Hand-Anlegen” können wir besser be-greifen, ob das gesetzte Ziel für uns wichtig und wünschenswert genug ist, um dafür zu arbeiten.

Apropos Wünsche: Wie sollte man wissen, was man will, wenn man nie darüber im Ernst nachgedacht hat? Und ein guter Weg, sich damit zu beschäftigen, ist, diese Wünsche zu Papier zu bringen. Versucht mal zum Ende des Jahres eine Liste mit 100 eigenen Wünschen zu verfassen. Ihr werdet mit dieser Liste bestimmt ein paar Jahre zu tun haben und vielleicht sogar danach euer jetziges Leben komplett umkrempeln.

Planen und Fokussieren

Haben wir eine Vorstellung von unseren eigenen Zielen und Wünschen, legen wir sie über die Zeitfragmente, die uns nach dem Abzug aller Verpflichtungen zur Verfügung stehen. Jede Aufgabe, die auf unsere Ziele einzahlt, muss in unserem Tagesablauf einen festen Platz finden.

In der Welt der agilen Software-Entwicklung gibt es zwei hilfreiche Arbeitsmethoden: Sprint und Time-Boxing. Beim Sprinten arbeiten wir in regelmäßigen Abständen (z.B. im zweiwöchigen Rhythmus) an kleinen Zwischenschritten, die uns beim Erreichen unseres Ziels helfen. Am Ende jedes Sprints analysieren wir die Ergebnisse und korrigieren die nächsten Schritte.

Bei der Time-Boxing-Methode geht es um das Einplanen einer begrenzten Zeit für eine Aufgabe, z.B. täglich 10 Minuten Klavier spielen oder 30 Minuten ein Buch lesen. Ist die Zeit abgelaufen, darf man den Fokus ruhig auf etwas anderes legen.

Zu einem immer größeren Problem wird unser Umgang mit dem Smartphone, das uns dank Reels und Shorts immer schnelle Endorphine verspricht und unsere Zeit frisst. Was können wir dagegen tun?

Das Smartphone muss weg!

Jake Knapp und John Zeratsky widmen in “Mehr Zeit” ein ganzes Kapitel dem Thema, wie man ein störungsfreies Smartphone einrichtet. Schaltet für das Erste alle Mitteilungen aus sozialen Netzwerken, Zeitungen und sonstigem Informationsmüll ab.

Im Alltag ist auch die Zwei-Minuten-Regel von Steven Covey sehr hilfreich:

Sollte eine Aufgabe weniger als zwei Minuten in Anspruch nehmen (eine Mail beantworten, die Waschmaschine einschalten, den Müll wegbringen), sollte diese sofort erledigt werden.

Die Gefahr dabei ist, dass diese Kleinigkeiten die ganze Zeit auffressen können. Und der Alltag mit kleinen Kindern besteht hauptsächlich aus solchen kleinen und immer dringenden Aufgaben.

Eigenen Weg finden

Diese Bücher enthalten natürlich noch viel mehr hilfreiche Ratschläge, wie man mehr Zeit haben könnte. Allerdings eignet sich nicht jeder wohl gemeinte Ratschlag in jede Lebenssituation. Was alle diese Bücher gemeinsam haben, ist die männliche Perspektive auf die Welt. In der patriarchalen Kultur sind Männer meistens dafür verantwortlich, was sich leichter delegieren lässt: das Familienauto wird in einer Werkstatt repariert, der Rasen kann von einem Nachbarsjungen gemäht werden, der Keller wird von einem Vollprofi gefliest.

Das Delegieren von Aufgaben wie das Wäsche waschen und die tägliche Babybrei-Zubereitung ist deutlich kostenintensiver und bleibt dabei meistens an Frauen hängen. Über die Gründe und Hintergründe dieser Arbeitsaufteilung in Familien schreibt die wunderbare Alex Zykunov in ihrem Buch “Wir sind doch alle längst gleichberechtigt” zu dem Thema “Patriarchat in der deutschen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts”.

Als meine Tochter etwa zwei Jahre alt war, stieß ich auf ein ganz anderes Buch, das mir half, auf mein Hamsterrad aus einem anderen Winkel zu schauen: “Wishcraft: How to Get What You Really Want” von Barbara Sher. Es erschien bereits 1978 und wurde auf der Welle der Verbreitung der positiven Psychologie weltweit bekannt. Eine einzige Bemerkung in diesem Buch veränderte damals meine Einstellung zu meiner Situation. Im Kapitel über die Suche nach der Zeit, um eigene Träume zu verwirklichen und die Methoden, den Aufschieberitis zu überwinden, wurde nebenbei angemerkt: es findet sich immer ein Stündchen, um etwas zu erledigen, es sei denn, man ist die Mutter von zwei kleinen Kindern unter drei Jahren:

Unless you are a mother with two children under the age of 3—in which case you’d better find another mother to swap afternoons with—your “Present Patterns” has probably turned up at least an hour or two a day that you habitually fill by napping . . . or watching football games or soap operas . . . or rereading the morning papers . . . or cleaning a closet or desk you already cleaned last week. It’s probably a time when you’re alone, a lull between storms of activity and demand: lunch hour at work, afternoon before the kids come home, evening after they’re in bed. That’s the ideal kind of time for working on your goal—but you need the idleness and relaxation, too.

Aber sobald die Kinder größer werden, werden sich im Alltag immer wieder fragmentierte Gelegenheiten finden, an einem persönlich wichtigen Projekt zu arbeiten. Bis dahin sollten wir unsere Ziele eher entspannt angehen und der aktuellen Lebenssituation ohne Stress entgegensehen.

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert