“Becoming” nach Elke Heidenreich oder “Hier geht’s lang!”
Wenn Elke Heidenreich ein Buch veröffentlicht, dann ist es immer zumindest lesenswert. Wenn Elke Heidenreich außerdem Geschichten aus ihrem Leben erzählt, dann ist es immer faszinierend. Schon bei “Ihr glücklichen Augen” fragte ich mich, wie ein Mensch das alles in einem Leben erleben kann.
In “Hier geht’s lang!” nimmt Frau Heidenreich uns mit auf ihre ganz persönliche literarische Reise durch die einzelnen Stationen ihres Lebens und die Bücher, die sie dabei begleiteten. Es ist nicht nur eine Reise, es ist auch die Geschichte ihres Werdegangs als Leserin, als Schriftstellerin, als Botschafterin des Wortes, als kreative Persönlichkeit.

Das gesamte Buch ist voller von Zitaten über den Sinn und die Schönheit des Lesens:
“Das Lesen ist nicht von der Organisation der täglichen Zeit abhängig, es ist, wie die Liebe, seine Seinsweise. Die Frage ist nicht, ob ich Zeit zum Lesen habe oder nicht (…), sondern ob ich mir das Glück, Leser zu sein, leiste oder nicht.” (Daniel Pennac)
“Liebt das Buch, die Quelle des Wissens, denn nur das Wissen allein kann und rettern, kann uns zu geistig starken, ehrlichen und vernünftigen Menschen machen, die imstande sind, den Menschen aufrichtig zu lieben.” (Maxim Gorki)
In den Fokus setzt Frau Heidenreich zwar die Bücher weiblicher Autorinnen, vernachlässigt aber die “Klassiker” aus männlicher Feder nicht. Sie reißt auch eine Reihe sehr spannender Themen an:
- Lesegewohnheiten von Mädchen und Jungen, von Frauen und Männern: Während Mädchen auch nach den “Jungsbüchern” greifen (heute wären das “Armstrong” oder die “Die drei ???”-Serie), kommt wohl kaum jemand auf die Idee einem Buben rosa-rote Glitzerbücher über Sternenschweif zu schenken (schade, eigentlich!). Bei Männern und Frauen geht es weiter: Ich nehme an, dass der Anteil männlicher Leser bei den Büchern von Alex Zykunov und Caroline Criado-Perez nun doch deutlich geringer ausfällt. Wobei das so auch nicht ganz stimmt: die Männerliteratur, die Frauen nicht (gern) anfassen wollen, existiert ebenfalls. Das sind Bücher, in denen Frauen ihre “Menschlichkeit” abgesprochen wird, und in denen sie auf eine Rolle reduziert werden.”Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins” von Milan Kundera wäre so ein Buch: Die Liebende erträgt geduldig die Affären ihres Mannes, als ob das normal wäre.
- Kindererziehung: Das eigene Schicksal von Frau Heidenreich ließ mich aufhorchen. Sie war ein sehr konformes und bequemes Kind, das seine Zeit mit dem Lesen von Büchern verbrachte. Solche Kinder wünschen sich doch die meisten Eltern! Aber eigentlich floh sie in eine fiktive Welt, konnte sich mit ihren Problemen nicht auseinandersetzen. Irgendwann implodierte dieser Schein des bequemen Kindes ,und Frau Heidenreich kam in eine Pflegefamilie.
- Tragische Schicksale kreativer Frauen: Sie zogen Pelze an, stopften Steine in die Jackentaschen, riefen den Tod in ihren letzten Gedichten und verließen diese Welt, die ihnen keine künstlerische Freiheit gewähren konnte. Nur um ein paar Namen zu nennen: Virginia Woolf, Zelda Fitzgerald, Dorothy Parker. Es sind viel zu viele, und jede einzelne ist eine zu viel.
Ein weiterer interessanter Gedanke in dem Buch erklärt die Studentenbewegung der 60er Jahre:
- Der Wider- oder Aufstand war nicht nur wegen des Konservatismus der älteren Generation, sondern viel mehr wegen des Schweigens zu und der mangelnden öffentlichen Verarbeitung der Kriegszeit. Heutzutage wäre der Widerstand solcher Wucht schwer vorstellbar: mit unseren Eltern sind wir in allen möglichen sozialen Medien vernetzt. Mit unseren Kindern werden wir wahrscheinlich gemeinsam durch die Online-Welten streifen und nicht nur sonntags zum Kaffee zusammenkommen, und nach einer Schweigestunde wieder auseinandergehen.
Das Schönste an solchen Büchern wie “Hier geht’s lang” ist, dass sie zu weiteren Büchern führen. Man taucht ein und kommt mit ganz persönlichen Schätzen heraus. Für mich sind das:
- “Ein Zimmer für sich allein” von Virginia Woolf: ein Essay über die Probleme des schöpferischen Lebens einer Frau;
- “Das entschwundene Land” von Astrid Lindgren: eine autobiografische Geschichte über die Liebe;
- “Kein Ort. Nirgends” von Christa Wolf: eine Geschichte über das gestörte Verhältnis zwischen dem Künstler und der Gesellschaft.



