
Bildung ist kein Privileg, sondern eine Selbstverständlichkeit
Eigentlich wollte ich dieses Buch nicht lesen. Der Titel des Buches “Mama, bitte lerne Deutsch” von Tahsim Drugun ließ mich eine jammernde Geschichte erwarten, von einem Sohn, der seinen migrantischen Eltern alle Probleme der Welt anlastet: “Hätten sie Deutsch gelernt, wäre das Leben besser, das Auto teurer und Urlaube ferner.”
Dann landete ich in einem Online-Buchclub, wo es genau um dieses Buch ging, und lauschte, wie Frauen wie Tahsims Mutter besser integriert werden können. Irgendwann schrieb jemand im Chat: “Warum lernt sie kein Deutsch?”
Warum sollte sie?
Es gibt tausend plausible Gründe, eine Sprache NICHT zu lernen:
- Wer nur auf einem Zwischenstopp in Deutschland lebt oder glaubt auf einem Zwischenstopp zu leben, setzt andere Prioritäten.
- Deutsch klingt nicht besonders melodisch und ist noch dazu zu komplex und stellenweise unlogisch (alleine die Zahlen!).
- Manche Menschen haben Schwierigkeiten beim Erlernen von Fremdsprachen.
- Man glaubt, mit Englisch durch den Alltag durchzukommen.
Und das war der Moment, an dem ich erfahren wollte, was hinter der Geschichte steckt: warum lernte Tahsims Mutter kein Deutsch?
Stark und einsam
Das Buch entpuppte sich nicht als Eltern-Bashing, sondern als eine Liebeserklärung an eine tapfere Frau, die ihren Überlebenskampf in einer Betonsiedlung von Oldenburg führte und die ihr Leben für ihre Familie zurückstellte.
Tahsim beschreibt seine Mutter als kluge Frau, die in ihrer Muttersprache poetische Metaphern zaubert, die aber in Deutschland schweigen musste. Ihr Leben pendelte zwischen Kindern und Arbeit als unsichtbare Putzkraft.
Gleichzeitig zeigt er das ganze Spektrum: harte Arbeit, ausgelassene Feiern, Hochzeiten und Verluste. Und er beschreibt die Schikanen, die seine Familie als Nicht-Deutsche erlebte, den mühsamen Weg zur Staatsangehörigkeit – und die ständige Ambivalenz: Ich bin Teil davon, aber gehöre nicht hierher.
Viele Missverständnisse entstanden schlicht, weil seine Mutter (und auch sein Vater, das Buch “Papa, bitte lern Deutsch” könnte wohl auch noch kommen) die Sprache nicht verstand. Aber mal ehrlich: Wer hat das nicht schon erlebt? Im Urlaub, in Bayern oder Sachsen – man versteht nichts und fühlt sich ausgeschlossen.
Die Geschichte von Tahsims Mutter ist eine Geschichte der Isolation. Und die Geschichte des Scheiterns der Bildung.
Das größere Problem: Bildung
“Es gab Tage, an denen (…) ich mehr Zeit mit diesem Tisch verbracht habe als mit einem Menschen. (…) Der Tisch war immer hier, aber ich konnte nichts von ihm lernen.”
Unsere Vorstellung von Bildung ist eine, die auf die Zeiten der industriellen Revolution passt. Man(n) geht in jungen Jahren in die Lehre und ist rund um den zwanzigsten Geburtstag ausgelernt. Wer als Erwachsener noch lernt, gilt schnell als „ewiger Student“. Das Lernen als Erwachsener ist hierzulande negativ besiegelt.
Erwachsenenbildung? In Deutschland bis heute ein Randthema.
Dazu kommt die Rhetorik der Dankbarkeit: Kinder migrantischer Eltern betonen oft, wie priveligiert sie sich fühlen, hier zur Schule gehen und studieren zu dürfen. Nett gemeint, aber eigentlich ein Armutszeugnis. Denn es zeigt, dass Bildung in Deutschland eben nicht als Selbstverständlichkeit wahrgenommen wird, sondern als Ausnahme, etwas eben nicht für jeden.
Bildung als Grundrecht, nicht als Geschenk
Solange wir Bildung als Privileg behandeln, zementieren wir Ungleichheit. Wir tun so, als müssten sich Menschen erst dankbar zeigen, bevor sie teilhaben dürfen. Jemand, der sein Leben durch eine Migration umkrempelt, wird fast immer mit der Frage “Bin ich gut genug?” konfrontiert. Und sehr häufig ist die Antwort “Nein”. Wenn die Bildung als etwas nur für die Besseren, Wohlhabenden und Privilegierten gedacht ist, traut sich jemand, der / die nicht “gut genug” ist, diese wichtige Möglichkeit zu ergreifen.
Doch Bildung ist kein Geschenk, sie ist unser Menschenrecht. Unabhängig von unserer Herkunft, sozialen Situation oder unserem Alter.
Das heißt konkret:
- Bildung und die Information über die Bildungsmöglichkeiten müssen verfügbar sein: Sprachkurse dürfen nicht vom Zufall abhängen, sondern müssen selbstverständlich, niedrigschwellig und bezahlbar zugänglich sein.
- Erwachsenenbildung muss denselben Stellenwert haben wie Schulbildung: Lernen endet nicht mit 20. Wir müssen der lebenslangen Bildung nicht nur den Weg ebnen, sondern ihr auch Priorität in unserem Leben geben. Unser berufliches Leben ist keine Gerade mehr, aber unabhängig davon, damit der Weg weitergeht, müssen wir unser Wissen, unsere Fähigkeiten ständig anpassen und aktualisieren.
- Integration beginnt nicht mit Anpassung: Wer Menschen auf Sprachdefizite reduziert, verpasst ihr Potenzial, das durch die Bildung entfaltet werden kann. Wenn wir Bildung nicht als Grundrecht begreifen, verpassen wir nicht nur eigene Talente. Wir verlieren auch Fachkräfte, die wir dringend brauchen.
Den schweigenden Tisch zum sprechen bringen
Tahsim erzählt die Geschichte einer Frau, die scheiterte, nicht weil sie unfähig war, sondern weil das System ihr keinen Platz ließ.
Bildung darf nie ein Privileg sein. Sie muss selbstverständlich sein – damit niemand mehr gezwungen ist, an einem schweigenden Tisch zu sitzen, während das Potenzial zur Entfaltung nur einen Klick entfernt wäre.
Ein einfaches Gerät und die Information, wohin der Klick führen sollte, könnten der Anfang sein, die Mauer der Isolation zu brechen.
