
Das Liebespaar des Jahrhunderts, das wir verdient haben
Der Titel “Das Liebespaar des Jahrhunderts” klang vielversprechend. Noch dazu war es eine Empfehlung von Benedict Wells aus seinem Buch “Die Geschichten in uns”. Ich erwartete eine leidenschaftliche, aufopfernde Liebesgeschichte ähnlich wie bei Romeo und Julia, Tristan und Isolde, Natasha Rostova und Andrej Bolkonsky, Mr. Darcy und Elizabeth Bennet, Scarlett O’Hara und Rhett Buttler. Tatsächlich musste ich zu Beginn sehr lange nachdenken, ob es sich vielleicht um eine Geschichte im Stil der “New York Trilogie” von Paul Auster handelt: jederzeit könnte ein Teufelchen aus den Zeilen springen und die ganze Welt von Schochs Liebenden auf den Kopf stellen. Aber nein, Julia Schoch meint es wirklich ernst: sie beschreibt eine Beziehung nicht aus der Sicht einer Geisteskranken, sondern aus der Sicht einer “normalen” Frau.
Wenn Stalking “Liebe” heißt
Die Geschichte ist banal: sie verliebt sich in ihn, weil er ihm mal in seinen besonderen Klamotten ihr so einzigartig erscheint. Er interessiert sich für sie, weil sie für ihn “da” ist. Sie richtet ihr Leben nach ihm. Er ignoriert sie und kommt, wenn es ihm passt. Und weil es bequem ist und er alltagsunfähig ist, lebt diese Beziehung und wird zu einer Familie. Irgendwann zweifelt sie auch an ihren Gefühlen, bringt es aber nicht über sich, den Schluss zu machen.
Ihr Leben lang sehnt sie sich nach einer symbiotischen Liebe zu diesem Mann und verzichtet auf ihre eigene Entwicklung, nur um für ihn da zu sein. Es gibt kein Drama, keine Leidenschaft. Sie opfert sich auf, weil sie sonst mit ihrem Leben einfach nichts Besseres anfangen will. Ihre Art, ihre symbiotische Liebe auszuleben, grenzt an Stalking.
Wenn diese krankhafte Sehnsucht nach einem anderen Menschen als Liebe gelten soll und Schochs Paar zum “Liebespaar des Jahrhunderts” gekürt wird, tut das weh. Dieses große Gefühl, das von Tausenden Künstlern vor Schoch besungen wurde, ist in unserer Zeit angekommen. Das Liebespaar des Jahrhunderts ist das Paar, das nicht von Gefühlen sondern vorm Alltag erschlagen wird. Wie die Zeiten, so die Liebe!
Wenn SIE und ER zu EINS werden
Im krassen Gegensatz zu Schochs fiktiven Charakteren steht die wahre Geschichte von Marina Abramović und Ulay, die Marina bis in die intimsten Details in ihrem autobiografischen Buch “Durch die Mauern gehen” beschrieben hat.
Diese beiden Performance-Künstler waren nicht nur ein Paar, sondern sie machten ihre Liebe zu einem radikalen Kunstprojekt. Zwischen 1976 und 1988 verwischten sie die Grenzen zwischen Kunst und Leben auf eine Weise, die das Publikum schockierte und faszinierte.
Abramović und Ulay lebten ihre Beziehung buchstäblich auf der Bühne aus. In Performances wie „Relation in Space“ (1976) und „Light/Dark“ (1977) setzten sie ihre Körper und ihre Beziehung zur Schau. Ihr Ziel war es, die eigenen Grenzen und die des Publikums auszuloten. Wie viel nackte Haut kann das Publikum aushalten? Wie stark kann ich meinen Partner physisch verletzen? Wie viel Zeit können wir miteinander verbringen, ohne einander zu hassen?
Diese Werke waren nicht nur künstlerische Darbietungen, sondern auch Metaphern für die Dynamiken ihrer Partnerschaft – intensiv, herausfordernd und oft schmerzhaft.
Das Ende ihrer Beziehung ist ebenso spektakulär wie ihre gemeinsame Kunst. Die Performance „The Lovers – The Great Wall Walk“ (1988) sollte ein romantisches Finale werden: eine Hochzeit auf der Chinesischen Mauer. Doch es kam anders. Ihre aufwendigste Performance wurde ihre letzte: Nach Monaten des Wanderns auf der chinesischen Mauer trafen sie sich in der Mitte und trennten sich. Ein eindringlicher Moment, der nicht nur ihre Liebe symbolisiert, sondern auch den Schmerz des Abschieds.
Die Symbiose in der Beziehung
Die Liebes- und Arbeitsbeziehung von Marina Abramovic und Ulay wurde von ihnen von Anfang bis zum Ende als Kunst gelebt. Sie suchen nach der Symbiose in der Liebe und in der Kunst. Julia Schoch stellt mit ihrem namenlosen Paar ein absolutes Gegenstück zu den beiden Künstlern. Ihre “Liebenden” zelebrieren das Ende nicht, sie trauen sich nicht mal, ihre Beziehung zu beenden, sondern fallen immer wieder in das Muster “Zusammen ist man weniger allein”. Aber sie nennen ihre Beziehung „symbiotisch“ und feiern sich als jemand, der was von der Liebe versteht.
Während Marina und Ulay eine Ausnahme auf dem künstlerischen Himmel sind, sind Paare wie das von Schoch keine Seltenheit. In diesem Sinne ist ihr Paar tatsächlich das Liebespaar des Jahrhunderts.
Und sonst noch
Sowohl „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ als auch die Biographie von Marina Abramović sind allerdings mehr als nur die Liebesgeschichten. Sie liefern eine umfangreiche historische Kulisse und lassen uns immer wieder in die Geschehnisse jener Zeit eintauchen. Ein Blick in beiden Büchern lohnt sich auf jeden Fall.
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