Die Heldenreise: 2000 Jahre später
Eine Heldenreise ist ein Erzählmotiv, das wir vor allem aus den griechischen Mythen kennen. Sie wird auch als Monomythos bezeichnet. Der Begriff entstammt der Autor der größten Odyssee des 20. Jahrhunderts James Joyes. (Sein Ulysses wartet ebenfalls auf seine Sternstunde in meinem Regal ungelesener Bücher.) Der Monomythos wurde als Konzept nach dem zweiten Weltkrieg vom amerikanischen Mythenforscher Joseph Campbell durch sein Buch „Der Heros in tausend Gestalten“ popularisiert.
Die Heldenreise bildet die Grundlage in der Filmreihe „Star Wars“ von George Lukas. Aber auch basieren die Suche von Frodo, die Kämpfe von Neo, die Abenteuer von Simba und die Lehrjahre von Harry Potter ebenfalls auf diesem Motiv.
Der Kern der Heldenreise bilden die Phasen der Separation, der Initiation und des Rückkehrs: der Held wird gezwungen, sich auf ein Abenteuer einzulassen, mehrere Hindernisse zu überwinden (darunter auch das Tal der Enttäuschungen), um anschließend transformiert wieder nach Hause zu kommen. Die letzte Phase ist in der Regel mit Ruhm und Ehre verbunden: der Held wird zu Hause mit Anerkennung belohnt und darf ab sofort zu den Weisen des Hauses gehören.
Die folgende Grafik stammt originell aus dem Buch von Campbell.

Zum ersten Mal begegnete ich der Heldenreise nach Campbell im Ray Dalio’s Buch „Die Prinzipien des Erfolgs„. Ohne übertriebene Bescheidenheit definiert sich Dalio als ein Held und beschreibt seinen Werdegang entlang des Campbells Reise. Dabei versucht er sein Heldentum etwas zu relativieren, indem er die These aufstellt, dass es Helden „in unterschiedlichen Größen gibt“.
Als seinen größten Erfolg feiert Dalio seine Vorhersage der Wirtschaftskrise 2008 und somit seine unumstrittene Fähigkeit komplexe Ereignisse und ihre Auswirkungen zu analysieren. Nach Taleb müsste man allerdings anerkennen, dass Dalio bei seinen Vorhersagen einfach Glück hatte. Und tatsächlich musste er durch die beiden Corona-Jahre einen Teil seines Vermögens einbüßen, da er die Pandemie nicht vorhersehen konnte. Bei Dalio sehen wir einen Clash zwischen der Realität und dem Mythos: der mythische Held lebt bis zum Ende seines Lebens glorreich, ruht sich auf den Lorbeeren aus. Dalio muss jedoch weiterhin sein Gesicht wahren und die Welt weiterhin mit seinen Weisheiten die Welt erfreuen. Und viele kaufen ihm das aufgrund seines Helden-Status ab und warten auf seinen nächsten Auftritt, seinen nächsten Tweet oder sein nächstes Interview.
Dalios Heldentum basiert auf Ereignissen, die für die Außenwelt von Bedeutung sind. Als Held sieht er sich berufen, seinen Einfluss auf diese Außenwelt ausüben zu müssen und sein Wissen über sein Buch (das schon ein ordentlicher „Klopper“ ist) und sein Geld (durch seine philanthropischen Aktivitäten) weiterzugeben.
Ray Dalio und ähnliche männliche „Personen des öffentlichen Lebens“ sorgen dafür, dass der Helden-Mythos auch heute 2000 Jahre nach der Entstehung von Homers Epen weiter lebt.