Kreativität macht den Unterschied. Am Ende.
Ich schreibe häufig darüber, dass jeder Mensch eine kreative Person ist. In der Werbebranche wird der Begriff “Kreative(r)” als Berufsbezeichnung für Texter, Copywriter und Designer verwendet. Aber wann wurde Werbung eigentlich zu einem kreativen Beruf?
Ein Fahrradrad auf einem Podest, ein Kilo Fett in einer Zimmerecke, eine Banane an der Wand, geklebt mit grauem Tape: das sind alles Kunstobjekte der letzten 100 Jahre. Sie zeigen: Eine Idee kann Kunst sein, jeder Mensch kann kreativ sein. Und es ist nicht verwerflich, die Konsumwelt zur Kunst zu erklären. Schließlich schaffte es Andy Warhol mit der Werbung für Suppendosen zu seiner ersten Ausstellung als Künstler. War das der Moment, in dem Werbung zur Kunst wurde?
Ein Produkt dieser Transformation ist Jean-Remy von Matt, ein Dinosaurier der deutschen Werbewirtschaft, vom Beruf her ein “Kreativer”. Von „Geiz ist geil“ über „Wer hat’s erfunden?“ bis „BILD dir deine Meinung“ – von Matt hat nicht bloß Produkte verkauft, sondern Sprachgeschichte geschrieben. Nach fünf Jahrzehnten als Werbetexter und Unternehmer kam er zu dem, was seine Berufsausübung überhaupt ermöglicht hat: zur Konzeptkunst. Eine folgerichtige Wende für jemanden, der nie ein Handwerk im klassischen Sinne beherrschte, aber seine Ideen in der Welt materialisieren konnte.
Während Marcel Duchamp und Joseph Beuys, die Urheber von oben erwähnten Kunstwerke, ihr handwerkliches Fundament nie verloren, entwickelte von Matt seine sprachliche Eloquenz in der Welt der Slogans und Ideen. Von Matt verdiente mit seinen Ideen Geld. Aber glaubte Jean-Remy von Matt wirklich ein Kreativer als Werber gewesen zu sein? War es die Sprache, die er zur Kunst formte? Oder ist es die Psyche von “Zielgruppen”, die er kunstvoll lenken konnte, um Konsumbegehrlichkeiten zu erzeugen?
Eine andere Art, das eigene Leben zu beschreiben
In seinem neuen Buch “Am Ende” dokumentiert von Matt in 77 Kapiteln auf kluge und charmante Art und Weise eine Reihe von Anekdoten aus seinem Leben, die mich beim Lesen und auch danach zum Lachen oder mindestens Schmunzeln brachten. „Am Ende“ ist kein klassisches Memoir, sondern eine Konzeptarbeit im Buchformat.
Von Matt lässt seine Geschichten bewerten. Wie Werbekampagnen. Nur die besten schaffen es ins Buch. Die stärksten Geschichten sind die, in denen er anderen begegnet: seiner Mutter, einem Obdachlosen, seinem Kollegen Holger, Claas Relotius. Zwischen den Zeilen offenbart er seine Haltung und Verständnis der Kreativität.
Dabei verwebt er mühelos neben Anekdoten über seine Penisgröße seine Haltung zur Kreativität sowie die Prinzipien seines Erfolgs. Keins davon wird eine Überraschung sein, aber am Ende haben sie einen Unterschied gemacht: zwischen der Werbeagentur “Jung von Matt” und anderen, deren Namen ihr nicht kennt oder die im Jahre 2025 nicht mehr existieren.
Die Prinzipien des Erfolgs, die keine sind
Ich würde gerne eine Liste mit zehn Prinzipien zusammenfassen, wie man kreativ ist, wird oder bleibt. Aber nach von Matt gibt es eine einzige Grundlage für alles — Mut.
Mut, radikal einfach zu handeln, denn die einfachsten Ideen bringen weiter. Zum Beispiel ist die Idee „Deutschlands häufigstes Wohnzimmer“ sehr einfach. Aber die Resonanz war riesig. Abgesehen davon, dass die Kreativen die Werbung für durchschnittliche Menschen mit all ihrer Emotionalität schaffen sollten, manchmal so abgehoben sind, dass sie einen durchschnittlichen Raum erst kreieren mussten.
Mut, bedenkenlos mit etwas, sogar sehr Dummen anzufangen, denn
„Bedenken sind die Sargträger der Innovation“.
Mut, anders zu sein: jemand, der/die im Büro Holz mit dem Axt hackt.
Mut, nie zufrieden zu sein, denn Unzufriedenheit ist der Motor der Kreativität:
“Jede Initiative, jede Idee, jede Innovation ist aus Unzufriedenheit geboren.”
Mut, Neuem mit Optimismus und der Frage „Warum nicht?“ statt „Ja, aber…“ zu begegnen.
Mut, das Sichere und Bekannte zu verlassen und in ein unbekanntes Gewässer hinauszuschwimmen.
Mut, anderen Angst zu nehmen, ihre Kreativität zu entwickeln und sie machen zu lassen: eine Grafikpraktikantin ein Logo für Sixt oder einen Finanzexperten einen Werbetext entwerfen zu lassen.
Mut, der erwarteten Ordnung zuwiderzuhandeln, als ungehorsam oder charakterschwach verstanden zu werden.
Mut, aus dem Nichts Neues zu schaffen:
“Wer Angst vor diesem nichts hat, wird nichts.”
Mut, in ungünstigen Lagen Chancen zu erkennen.
Mut, sich in den Kleinigkeiten zu verbeißen: Details machen den Unterschied in der Kreativität, und das gilt in der Mode, in der Schriftstellerei und auch in der Technologie.
Mut, Nein zu allem Überflüssigen zu sagen: Das ist der Ursprung von allem Wesentlichen.
Die Prinzipien, die eine Kampagne groß machen, sind dieselben, die ein Produkt groß machen: Einfachheit, Unzufriedenheit, Mut. Nur nennt man es heute nicht Werbung, sondern Innovation.
Das Wirtschaftssystem aus einer Illusion
Warum schreibt man eigentlich Biografien? Um sich zu entschuldigen, um den eigenen Blickwinkel auf Geschehnisse darzustellen?
Von Matt behauptet nichts zu bereuen, bringt aber immer wieder umstrittene Situationen ins Spiel, die er nun doch wohl erklären muss. Aber vielleicht musste der große Kreative auch mal über seine Niederlagen berichten, um nicht den Eindruck zu hinterlassen, dass ihm alles in den Schoss gefallen ist. Und es gibt eine Menge Erklärungen: warum das Motto der Agentur “Wir bleiben unzufrieden” ist? Warum man den gefallenen “Fantasten” Relotius engagiert hat? Warum man Oldtimer fährt (Spoiler: dank eines Mechanikers, der sich auf die Oldtimer-Reparaturen spezialisierte, gewann die Agentur “Jung von Matt” das Mercedes-Budget)? Und auch dass der eigene Erfolg kein Zufall ist.
Vielleicht war Jean-Remy von Matt nie wirklich ein Künstler. Aber er hat aus der Illusion, einer zu sein, ein ganzes Wirtschaftssystem gebaut. Er hat verstanden, dass Kreativität weniger mit Kunst und Genie zu tun hat als mit Disziplin, Haltung und Mut. In einer Branche, die gelernt hat, Ideen zu verkaufen, erinnert er daran, dass es am Ende nicht um Geld oder Ruhm geht, sondern darum, etwas zu wagen, das noch niemand zuvor getan hat.


