
Lesen ohne Kontext: Über die Enttäuschung und den Gewinn von Intermezzo
Mein Germanistikstudium ging mit unzähligen Semestern der westeuropäischen Literatur einher. Irgendwann mussten wir an “Germinal” von Émile Zola ran. Und da ich Germanistik studierte und offensichtlich in Geschichte nicht gut genug aufgepasst hatte, ackerte ich mich durch die 400 Seiten mit der Frage “Wann kommt Germinal?” Ich war nicht die einzige, die enttäuscht war, dass der Germinal doch nicht gekommen ist. Irgendwann klärten die Romanistik-Studierenden unsere Verwirrung auf: als Germinal bezeichnete man in Frankreich nach der großen Revolution den Monat März. In diesem Monat ereigneten sich die Geschehnisse im Roman von Zola. In meinem Leben war das das beste Beispiel über die Sinnlosigkeit des Lesens, wenn man sich mit dem Kontext nicht beschäftigt.
Mit “Intermezzo” ging es mir ähnlich wie mit “Germinal”. Zwar wusste ich, wie sehr Kontext das Leseerlebnis prägt – gelernt habe ich daraus anscheinend dennoch nichts. Also saß ich wieder da und wartete wieder auf etwas, das nie kam. Stattdessen kamen Liebe, Beziehungen und Schach.
Ein Roman über Beziehungen und Gefühle
“Intermezzo” ist ein Roman über Beziehungen – hauptsächlich über die Beziehung zwischen den Brüdern Peter und Ivan, die einen Altersunterschied von zehn Jahren haben und allein schon dadurch unterschiedliche Lebenssituationen, -ansichten und -Einstellungen haben. Nach dem Tod ihres Vaters haben die beiden Schwierigkeiten, eine Familie zu bleiben. Ihre Gefühle füreinander sind verkorkst. Sie wissen einfach nicht, welche Rollen sie im Leben des jeweils anderen spielen könnten, seit es keinen gemeinsamen Nenner mehr gibt.
Es ist auch ein Roman über Liebesbeziehungen. Peter führt Beziehungen zu mehreren Frauen gleichzeitig. Ivan hätte wohl auch nichts dagegen viele Liebeserfahrungen gesammelt zu haben, hat aber als introvertierte Person (er ist ein Schach-Genie, was sollte er sonst sein!) Schwierigkeiten Kontakte aufzubauen. Zu einem Zeitpunkt hat Peter eine Freundin im Alter von Ivan, während Ivan eine Beziehung mit einer “alten”, 36-jährigen Frau führt. Anhand dieser Konstellation illustriert die Autorin die Doppelmoral, dass eine Beziehung, in der ein Mann jünger ist, als kontrovers gilt, während eine der Beziehung mit einer deutlich jüngeren Frau als normal angesehen wird. Die Aufdeckung gehört für mich zu den stärksten Elementen im Buch.
Nicht nur Was?, sondern auch Wie?
Spätestens seit “Der Name der Rose” von Umberto Eco wurde es langweilig, einfach Geschichten zu schreiben, Charaktere zu entwickelt und den Leser mit philosophischen Fragen zu beschäftigen. Die Form und Struktur eines Romans müssen unbedingt zur gesamten Idee beitragen. Der Roman von Sally Rooney ist wie ein Schachspiel aufgebaut. Ein Kapitel nach dem anderen wechseln sich die Perspektiven, aus welchen erzählt wird. Mal sehen wir die Welt mit Peters, mal Ivans Augen.
Der Romanttitel “Intermezzo” ist auch ein Schachbegriff: als Intermezzo bezeichnet man einen überraschenden, meist kurzen Zwischenschritt in einem Schachspiel. Es ging also nicht nur um eine Episode im Leben zweier Brüder, sondern um eine tiefere Metapher – vielleicht sogar, dass das Leben ein Spiel ist. Man könnte erwarten, dass es am Ende nun zum Sieg eines der Brüder kommt. Aber nein. Es kommt zu einer hollywoodreifen Szene. Die Spannung löst sich auf und es bleibt nur die absolute Gewissheit eines Happy Ends.
Der Verleger von Sally Rooney ahnte wohl, dass nicht jeder hinter dem Sinn des Namens kommen würde und packte eine Schachfigur aufs Cover, damit auch Schachbanausen eine Idee davon bekommen, worum es eigentlich geht.
Lohnt es sich die Zeit, in den Roman zu investieren?
Wenn man eine Geschichte im Stil von Hanya Yanagihara erwarten würde, dann nein. Yanagiharas Romane zeichnen sich auch durch ihr tiefes Interesse an der männlichen Gefühlswelt aus. Rooneys Charaktere sind dafür zu alltäglich.
Wer etwas über Irland erfahren möchte – ebenfalls nein. Ivan und Peter hätten genau so gut in New York oder Bangkok leben können.
Wer sich auf einen Roman mit einer unüblichen Form einlassen und außerdem Narrativbrüche erleben möchte (z.B. ein erfolgreicher Anwalt, der Spaß an Putzen und Wäschewaschen hat), für den würde sich ein Blick ins Buch lohnen.
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